Victors Frau mit den Kindern Treasure und Christopher

Victor, mein Freund, und der größte Wunsch

“I don’t want them to go to public school. I want them in a private school.” Wieder einer dieser unsympathischen Gedanken in mir. ‚Reicht denn nicht erst einmal die öffentliche Schule?‘ denke ich. „Why?“ frage ich. „Public schools are not good“ sagt Victor. Er schaut mich noch immer nicht an. „Because you don’t learn anything?“ frage ich. „No. You learn things. But they hit the children. And sometimes they do other things, you know?”

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Victor bekommt Kleidung für seine Kinder, er bekommt Schuhe und eine Jacke für den Winter. Er freut sich. Er ist dankbar. Er will aber etwas ganz Anderes. „I need a Job“, das sagt er immer, wenn wir uns treffen. Er steht unter Druck. „It doesn’t matter what. Really, I will do anything.“
Sicher hat das auch mit Stolz zu tun. Das, denke ich zuerst, ist der Grund, warum er so dringen arbeiten will. Dann wird mir klar, wichtig ist etwas Anderes. Seine Familie. Er kann nicht bei ihnen sein, also will er wenigstens für sie sorgen. Nach und nach erfahre ich, wie seine Familie lebt, seit er weg ist. Er redet nicht gern darüber. Vielleicht hat er Schuldgefühle, ich weiß es nicht. Ich frage nicht. Ich will den Schmerz nicht noch größer machen.

Seine Frau und seine Kinder leben auf dem Grundstück der Kirche.Dort haben sie ein Dach über dem Kopf. Nigeria hat kein soziales Netz. Dort sind sie geschützt. Mehr nicht. Victor ist darüber froh. Er ist sich nie ganz sicher, ob die Männer, die ihn töten wollten (Mehr in Victors erster Geschichte), vielleicht doch seine Familie angreifen würden. Manchmal bekommt seine Frau auch etwas zu Essen von der Kirche. Eine Versorgung ist nicht eingeplant. Und vielleicht auch finanziell nicht möglich, die Armut in Nigeria ist groß. Ich weiß das, natürlich. Jeder weiß, dass Nigeria ein armes Land ist. Das abstrakte Wissen ist eine Sache. Zu wissen, dass Victors Kinder manchmal hungrig ins Bett gehen eine andere.

Victor schickt jeden Monat von seinem Taschengeld (143 Euro) etwas nach Hause. Er läuft und fährt Fahrrad, um das Geld für Tickets einzusparen. Es hilft seiner Frau. Aber es scheint nicht zu reichen. Victor ist verzweifelt auf der Suche nach Arbeit, um für seine Familie sorgen zu können. Schließlich gibt es ein Jobangebot. (Hier zur Geschichte) Victor ist vor Freude kaum zu halten. Doch die Arbeitserlaubnis wird vorerst verwehrt. Es fällt Victor schwer das deutsche System zu verstehen. Warum kann das sein, dass es Arbeit gibt, dass er arbeiten will – und doch geht es nicht. Ich versuche zu erklären, was ich selbst nicht verstehe. Ich will ihn vor allem beruhigen. Er wird immer nervöser. Es geht ihm schlecht. Es ist November.

Irgendwann rückt er damit heraus. Zum Jahresende müssen seine zwei Kinder zur Schule angemeldet werden. Oder sie können im nächsten Jahr wieder nicht gehen. Das will er um jeden Preis verhindern. Doch dafür braucht er Geld. Geld, das er nicht hat. In Nigeria müssen die Eltern Schuluniformen und natürlich Bücher bezahlen. Das Schulgeld für öffentliche Schulen ist abgeschafft. Ich frage, wieviel Geld er denn dafür schicken müsste. „400 Euros“ ist die knappe Antwort. Ich schüttele den Kopf. „That cannot be. That is too much.“ sage ich. „You could buy a uniform in Germany for that kind of money!“ Er schaut auf den Boden. “I don’t want them to go to public school. I want them in a private school.” Wieder einer dieser unsympathischen Gedanken in mir. ‚Reicht denn nicht erst einmal die öffentliche Schule?‘ denke ich. „Why?“ frage ich. „Public schools are not good“ sagt Victor. Er schaut mich noch immer nicht an. „Because you don’t learn anything?“ frage ich. „No. You learn things. But they hit the children. And sometimes they do other things, you know?” Ich frage nicht nach, weil ich ihn nicht noch mehr aufregen will. Aber ich bin mir sicher, dass „other things“ sexueller Natur sind. Später lese ich in einem Artikel aus der Zeit: „Nigeria ist ein Männerland, in dem die Armen und Schwachen mit Sex bezahlen“. Victor schüttelt seinen Kopf. “No, I will not let this happen.“ Er schaut mich noch immer nicht an. “When I was in School, one time the teacher hit me so hard, I almost lost my eye. I don’t even remember what it was I did wrong.” Er schüttelt wieder den Kopf. “No. I will not let them go there.“ Ich möchte ihm gern helfen. Natürlich, man könnte leicht sagen, dass Victor zu anspruchsvoll ist. Sollen seine Kinder doch in eine staatliche Schule gehen. Vielleicht haben sie ja Glück und werden nicht geschlagen. Es ist ja gut genug für viele Millionen nigerianische Kinder. Und viele weitere Millionen Menschen in Nigeria haben gar keine Schulbildung. Die Analphabeten-Quote liegt bei 39 % (bei rund 170 Millionen Einwohnern).
Sollte nicht jeder Vater seine Kinder schützen dürfen? Hat nicht jeder Vater ohne Ansehen von Herkunft, Hautfarbe, Religion etc etc. das Recht seine Kinder vor Leid zu bewahren? Victor kann nicht zum Lehrer seiner Kinder gehen und ihn zur Rede stellen. Er kann sich nicht vor sie stellen. Er kann sie nicht schützen. Er ist in Deutschland. Ihm bleibt nur der Weg über das Bankkonto. Wenn er denn Geld verdienen dürfte.
Ein paar Tage später treffen wir eine Vereinbarung. Ich überweise das Geld, er wird es mir zurückzahlen. Wenn er Arbeit hat. Es ist kein Geschenk. Das will Victor nicht. Es ist nur ein Vorschuss auf die Zukunft die da kommen wird. Wir wollen beide daran glauben.

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