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Warum uns „die Neuen“ guttun

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Mein Sohn hat einen Lieblingsplatz im Bus. Hinten links. Mein Sohn ist noch nicht ganz drei. Eltern werden ahnen, was das bedeutet. Wenn der Platz besetzt ist und der Tag irgendwie doof, dann wünsche ich mir manchmal Ohrstöpsel. Für alle, die im Bus sitzen. Mit dem Furor, den nur ein Kleinkind aufbringen kann, schreit und tobt er dann. Manchmal zwei Minuten. Manchmal die ganze Busfahrt.

An einem Donnerstag. Später Nachmittag. Alle irgendwie müde, irgendwie schlecht gelaunt. Der Bus kommt. Hinten links sitzt ein älterer Herr. „Da sitzt jemand auf meinem Platz!“. Die Stimme meines Sohnes schwankt zwischen Wut, Ungläubigkeit und Verzweiflung. „Ich frage den Mann mal, ob er vielleicht tauscht“, sage ich. In Notsituationen spekuliere ich manchmal auf eine Tüte Mitleid und frage wildfremde Menschen komische Dinge. Wie „Mein Sohn würde sehr gern dort sitzen, wo sie sitzen. Würden sie den Platz tauschen?“ (Wer jetzt den pädagogischen Zeigefinger hebt, mein Sohn müsse wenn schon selber fragen: Nein, wenn er kurz vor einem emotionalen Zusammenbruch ist, weil sein Lieblingsplatz besetzt ist, ist er dazu nicht in der Lage. Deswegen frage ich für ihn.) Diesmal gibt es kein Mitleid. Er sitze selber sehr gern auf diesem Platz antwortet der Rentner. Und schaut dabei aus dem Fenster. „Okay, dann noch eine schöne Fahrt“ sage ich und zu meinem Sohn: „Du hast es gehört, der Mann möchte auf seinem Platz sitzen bleiben.“ (Was übrigens total okay ist und ich finde es auch gut, wenn mein Sohn merkt, dass auch andere Menschen Bedürfnisse und Wünsche haben. Nur fürs Protokoll.) Drei, zwei, eins und BITTE: Ein Höllensturm bricht los. Mein Sohn tobt und heult und schreit seine Verzweiflung in den Bus. Ich halte seine Hand, sage manchmal was Beruhigendes, manchmal was Ablenkendes – ohne große Erwartung, dass das was bringt und übe mich in einer wichtigen Mutter-Disziplin: Missbilligende Blicke von Menschen zu ignorieren. Natürlich bekomme ich auch einen von dem Herrn, der seinen Platz behalten wollte. Klar. Jetzt kann er mich auf einmal anschauen. Schwamm drüber. Egal. Eine meiner wichtigsten Lektionen des Mutterseins. Die Empörungen und tausend schlauen Ratschläge fremder Menschen lächelnd ignorieren.

Und dann passiert etwas Besonderes. Eine Gruppe junger Afghanen aus dem Flüchtlingsheim dreht sich um und fängt an mit meinem Sohn zu reden. Auf irgendwas zwischen Englisch, Deutsch, Farsi und Zeichensprache. Sie lächeln ihn an, sie lächeln mich an. Sie gestikulieren mit dem Armen und erzählen offenbar wilde Geschichten. Und irgendwie verpufft die miese Stimmung nach und nach. Wir verstehen einander nicht, aber wir verstehen uns. Das Heulen meines Sohnes geht vom Wut-Verzweiflung-Schreien in Show-Heulen über, bis er auf einmal ganz vergisst sich aufzuregen. Die Fahrt ist plötzlich doch ganz okay. Nur für den Herrn hinten links irgendwie nicht. Egal. Schwamm drüber.

Warum schreibe ich das auf? Weil es meine ganz persönliche, statistisch nicht belegte Wahrnehmung illustriert. Die Flüchtlinge sind nicht nur eine Aufgabe (die sie ohne Zweifel auch sind). Die Flüchtlinge sind auch gut für uns. Ja, sie sind potenzielle Arbeitskräfte. Ja, sie helfen uns gegen die Überalterung. Aber sie tun auch etwas Anderes. Sie bringen ihre Kulturen mit. Und das ist etwas Gutes. Nichts, wovor wir uns fürchten müssen. Weil es uns dazu bringt – oder bringen kann – unser „das haben wir schon immer so gemacht“ zu hinterfragen. Ist es nicht vielleicht schöner, wenn wir mehr miteinander reden im Bus? Auch wenn es dann lauter ist? Ist es nicht vielleicht schöner, wenn wir zu Festen die ganze Nachbarschaft einladen und dafür auf die perfekte Tisch-Deko verzichten? Auch wenn es dann chaotischer ist? Müssen Kinder wirklich immer um Punkt Acht schlafen? Müssen wir uns über jeden Mist aufregen – oder können wir nicht auch einfach mal darüber lachen? Und ja, es gibt auch viele Dinge, die an unserer Kultur gut sind. Und die sollen wir auch gern behalten. Die sollen wir auch verteidigen. Wie ein fröhliches, lebendiges Zusammenleben funktioniert, da können wir ja vielleicht wirklich noch das eine oder andere lernen von unseren neuen Mitmenschen. Oder wieder neu entdecken. Wir haben ja nicht immer hinter unseren Thuja-Hecken flüsternd den Weber-Grill neben den für drei Menschen gedeckten Tisch gestellt und uns auf der Straße angeschwiegen.

Ich lebe nicht auf einer rosaroten Wolke. Ich weiß, dass es auch Probleme in der kulturellen Verständigung gibt. Ich will nicht, dass wir uns an Ereignisse wie in Köln gewöhnen. Ich will nicht, dass Parallelgesellschaften entstehen in denen Mädchen mit 16 gegen ihren Willen verheiratet werden. Ich glaube nicht, dass ein bisschen Lachen alle Probleme löst. Aber manchmal hilft es ungemein. Vor allem wenn man nach einer langen Woche ein brüllendes Kleinkind versucht nach Hause zu bringen und die bösen Blicke zu ignorieren. Ich bin den jungen Männern für eine wirklich nette Busfahrt dankbar. Sie hat mein Herz erfrischt.

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